Welche Bedeutung hat Essen für unsere soziale Rolle, für unsere Persönlichkeit?
„Essen bedeutet heute mehr als die Aufnahme von Treibstoff für den Körper und das freundschaftliche Miteinander bei Tisch. Essen ist eine Form des Konsums. In Überflussgesellschaften wird Konsum zum Bekenntnis, viele Menschen definieren darüber, wer sie sind oder sein wollen. Konsum – und damit auch das Essen – bestimmt zunehmend unsere Identität. Der Historiker Frank Trentmann hat unlängst in einem ‚Spiegel‘-Interview festgestellt, dass Menschen ihre Persönlichkeit heute viel häufiger und bewusster ändern als früher. Perfekt dazu eignet sich die eigene Ernährung als gut sichtbare Facette des Konsums. Ein Ernährungsstil lässt sich nämlich hervorragend in den Social Media inszenieren.“
Um es einmal konkret zu machen: Wie möchte sich beispielsweise eine Person inszenieren, die sich zu einer glutenfreien Ernährungsweise entscheidet, medizinisch betrachtet aber gar keine entsprechende Erkrankung besitzt? Dieser Mensch verzichtet freiwillig auf Getreideprodukte, auf Brot, Nudeln, Gebäck und vieles mehr, er braucht ständig Spezialkost, das Leben wird kompliziert. Wo liegt der persönliche Benefit?
„Wer glutenfrei kauft und isst, obwohl er Gluten verträgt, zahlt einen deutlich höheren Preis für sein Essen und muss noch dazu auf Geschmack verzichten. Diese Nachteile müssen durch einen erheblichen Nutzen auf einer anderen Ebene wettgemacht werden. Das kann zum einen der Glaube an mehr Gesundheit sein. Glutenfreie Produkte suggerieren, irgendwie gesünder zu sein als das Normalprodukt, obwohl das medizinisch nicht haltbar ist. Zum anderen hebt die glutenfreie Ernährungsweise von der anonymen Masse all jener ab, die ‚nur‘ normal essen. Auf diese Weise wird im sozialen Zusammenleben auch Aufmerksamkeit, Rücksichtnahme und Zuwendung generiert. Darüber hinaus kann dieser Lebensstil die eigene soziale Einbettung fördern, etwa in einer digitalen ‚Glutenfrei-Community‘. Der soziale Zusatznutzen einzelner Ernährungsstile kann ganz erheblich sein.“
Wie wird aus der Entscheidung Einzelner, sich auf eine bestimmte Weise zu ernähren, ein umfassenderErnährungstrend?
„In dem Einzelne möglichst viele mitreißen. Heute gibt es dank Social Media völlig andere Kanäle, um gleichgesinnte ‚Freunde‘ zu finden. So können Konzepte, die vor Ort keine Chance hätten, sich dennoch viral verbreiten. Um die Dimension zu illustrieren: In Ihrem Ort können Sie beispielsweise 10.000 Menschen erreichen. Wenn sich jeder Tausendste von Ihrer Idee überzeugen lässt und mitmacht, ergibt sich nur eine kleine Gruppe von insgesamt 11 Personen. Wenn Sie Ihre Idee aber in den sozialen Netzwerken präsentieren, dann erreichen Sie Millionen oder gar Milliarden von möglichen Freunden oder Followern.“
Darin drückt sich doch eine großartige Freiheit und Pluralität aus: Jeder darf leben, was er für gut und richtig erachtet. Statt sozialer Ausgrenzung erfährt er mentale Unterstützung und findet Gleichgesinnte. Warum aber fällt es den einzelnen Gruppen oftmals schwer, einander mit Respekt zu begegnen und den anderen einfach ihren Lebensstil zu lassen? Ernährung ist doch etwas sehr Persönliches, geradezu Intimes.
„Absolut! Allerdings ist das, was wir essen, mit unserer Gesundheit verwoben und auch mit den Ressourcen, die man für die Herstellung der Lebensmittel benötigt. Durch das Krankenversicherungssystem trägt die Allgemeinheit Mehrkosten für Krankheiten, die durch den Lebensstil bedingt sind. Ebenso ist die Allgemeinheit von den Folgen eines Lebensstils mitbetroffen, der durch hohen Ressourcenverbrauch gekennzeichnet ist. So gesehen ist Essen nicht nur Privatsache. Das macht das Thema durchaus delikat. Zumal Mehrkosten für Krankheiten und ein besonders hoher Ressourcenverbrauch derzeit nicht adäquat in den Kaufpreis eingepreist sind.“
Letzte Frage: Schreitet die Individualisierung unserer Essgewohnheiten weiter voran oder ist auch sie nur ein Trend unter vielen?
„Essen wird zukünftig noch individueller. Denn Menschen unterscheiden sich stark in der genetischen Ausstattung, im Stoffwechsel, Alter, Geschlecht, Kalorienbedarf, in der Zusammensetzung der Darmflora, um nur einige wichtige Modulatoren zu nennen. All diese Faktoren können durch immer bessere diagnostische und technische Möglichkeiten zukünftig genutzt werden, um die persönliche Ernährung hochgradig individuell zu gestalten. Der Megatrend zur Individualisierung wird uns allein aus diesem Grund sicher erhalten bleiben.“
Dr. Thomas Ellrott leitet das Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Der Privatdozent und Mediziner steht zudem der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Niedersachsen vor.
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